Mittwoch, 10. Juni 2015

Zweckmäßig

Ist die Welt zweckmäßig veränderbar? Karl Marx war dieser Überzeugung, als er in seiner letzten Feuerbach-These formulierte: "es kömmt drauf an, sie zu verändern". Wenn es auf etwas ankommt, geht es um nichts anderes, dreht sich alles darum, hängt alles davon ab. Die Welt muss nach der Überzeugung von Marx verändert werden, sonst ist alles zwecklos. Die seinerzeit bestehende Welt war für ihn die zwecklose Welt. Er könnte dabei wie zuvor Georg Christoph Lichtenberg gedacht haben: "Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss."

Die Welt soll nach Marx auf keinen Fall so bleiben, wie sie ist. Notfalls soll sie lieber untergehen als fortbestehen. Aber nur notfalls. Marx war sich der bereits laufenden Weltveränderung bewusst. Unveränderlich ist die Welt sowieso nicht. Genügt es also, den Dingen ihren Lauf zu lassen, um zu erreichen, worauf es ankommt? In gewisser Weise ja. Man ist ja nie nur Zuschauer des Weltlaufs, sondern immerzu Mit-Läufer. Ich kann nicht anders, als zum Ganzen beizutragen, indem ich dies und das tue oder lasse und damit anderes bewirke, als ohne mein Tun und Lassen der Fall wäre.

Ständig fallen im Weltgeschehen Entscheidungen. Beinahe alle davon sind mir abgenommen. Doch die wenigen Entscheidungen, die ich zu treffen habe, sind immer noch unendlich viele. An unzähligen Lebensgewohnheiten liegt es, dass die Zahl der Entscheidungssituationen für mich überschaubar ist. Das bei weitem meiste in meinem Leben geschieht schlafwandlerisch, nicht nur während der Ruhezeiten, sondern auch im übrigen Tagesablauf. Doch stets ist es möglich, Fremdbestimmtes, Gewohntes und scheinbar Selbstverständliches in Frage und zur Disposition zu stellen, nach dem Sinn und Zweck "normaler" Abläufe zu fragen und Handlungsalternativen in Betracht zu ziehen.

Sobald ich über mein im Tun und Lassen bestehendes Handeln nachdenke, kommt die Frage ins Spiel, an welchen Zwecken ich mich orientiere. Man kann das auch die Sinnfrage nennen, die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens und in der Konsequenz auch die nach dem Sinn der ganzen Welt. Menschen haben Zugang zu dieser Frage. Sie müssen keinen vorgegebenen Zwecken unbedacht dienen, sondern können eigene Zwecke setzen, aufeinander abstimmen und derart vergesellschaftet zu erfüllen streben. Eine so herbeigeführte Gesellschaftsveränderung dürfte Marx im Sinn gehabt haben, als er von Weltveränderung sprach.

Doch Zwecksetzung, zum Beispiel das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, ist das eine, Zweckerfüllung etwas ganz anderes. Mit küchenphilosophischem Witz vertrat dazu Hanns Dieter Hüsch den Standpunkt: "Es kommt immer was dazwischen." Die Umwelt ist zu komplex; denn sie ist stets der ganze Rest der Welt, mit dem es eine weltverändernde Initiative zu tun bekommt. An der zwecklosen Evolution kann jede zweckmäßige Revolution nur auflaufen. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Früher oder später muss jedes noch so fein abgestimmte System zerbrechen, sei es ein Planetensystem, sei es ein Gesellschaftssystem. Wann genau, weiß niemand. So erweist sich für die gute Sache immer wieder jene Mäßigung, die im Ausschöpfen der Zweckfreiheit des Augenblicks besteht, noch als das Beste. Carpe diem!